Dem Leben so nahe

Es war warm. T-Shirtwetter. Helles Sonnenlicht fiel durch die leicht geöffneten Vorhänge auf den Fliesenboden. Das rosa Nachthemd mit dem kleinen Stehbündchen stand dir besonders gut. Es ließ das zarte Rot deiner Wangen etwas kräftiger schimmern. Rastlos, als suchten sie etwas, glitten deine Hände auf der weißen Bettdecke hin und her. In der nebelgrauen Verworrenheit, die sich in dir niedergelassen hatte, quälte dich die Unruhe. Unaufhörlich bewegtest du deine Lippen. Du formtest Worte und Sätze, doch als würden sie im Sande versickern, verstummte ihr Klang, noch ehe er sich ausbreiten konnte. Ich verstand dennoch. Du wolltest nach Hause, in deinen Garten, in deine Küche, in dein altes Leben zurück. Doch die altersschwere Tatenlosigkeit hatte dich eingenommen und umklammerte dich, wie die Arme eines Geliebten.

Manchmal wenn sich die Schwere einen Augenblick lang zurückzog, blicktest du mich aus verschleierten Augen an. Als müssen sie sich erst wieder an Formen gewöhnen, tasteten sie mich suchend ab. Wer bist du, stand darin. Es war ein winziger Moment. Das Fenster schloss sich schneller als du mich hättest in dir wiederfinden könnten.

 

Doch es war nicht immer so. Einst warst du eine Alleskönnerin, wissbegierig und eigensinnig. Viel hast du ausprobiert und dir selbst beigebracht. Du warst mutig, viel mutiger als die meisten Frauen deiner Zeit, hast selbst entschieden, hattest deinen eigenen Kopf. Du hast dich selbst versorgt, selbst verpflegt und selbst geheilt. Aber irgendwann verließ dich die Motivation, gegen die Widrigkeiten des Lebens anzukämpfen. Deine Kraft tropfte aus dir heraus und Krankheiten hielten Einzug. Die, die nie zum Arzt ging, kam unter das Messer und verlor damit sich damit selbst. Mit den Operationen richtete sich das Elend in dir ein. Kaputt repariert, dachte ich, wenn ich auf deinen geschundenen Körper schaute. Nach den Eingriffen funktionierte kaum noch etwas, weder essen noch trinken, weder aufstehen noch reden und auch nicht mehr selbst entscheiden. Wenn du das vorher gewusst hättest, nie hättest du das letzte Stück deines Weges so für dich gewählt.

 

Dreimal standest du am Rande der Klippe und warst zum Sprung bereit. Dreimal hast du versucht, der Begrenztheit des Lebens zu entkommen. Dreimal wurdest du durch ärztliches Geschick ins Leben zurückkatapultiert. Ob das wirklich sein musste?

 

Du wolltest gehen und durftest es nicht. Der Entscheidungsgewalt beraubt, wurdest du zur Gefangenen deines Körpers. Dein klarer Wille war einem Geschehenlassen gewichen, einer Hingabe ohne Hingebung. Es schmerzte mich, dich so zu sehen und mein Herz weinte still. Ich fragte mich, warum man den Dingen nicht ihren Lauf ließ? Warum wir unbedingt über Leben und Tod anderer bestimmen wollen?

 

Ich saß an deinem Bett, schaute in Leere und lauschte den Geräuschen des Hauses. In der Reizarmut gingen meine Gedanken auf Reisen, stromerten durch Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Was ist, wenn ich irgendwann auch einmal so daliege? Unbemerkt war das Rascheln, das deine Hände auf der Bettdecke erzeugten, verklungen und auch dein Atem schien Ruhe gefunden zu haben. Vielleicht warst du eingeschlafen oder bereits in anderen Welten unterwegs, ich wusste es nicht.

Eine Fliege zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Frech und forsch, kreiste sie in kleinen oder größeren Bögen um dein Bett. Dann ließ sie sich nieder und nahm in völliger Selbstgefälligkeit auf der Wange Platz. Fordernd und gierig drückte sie ihren Rüssel auf deine zartrosa Haut. Wie vom Blitz getroffen, sprang ich auf und verscheuchte sie. Du rührtest dich nicht. Selbst wenn du wach gewesen wärst, hättest du dich nicht wehren können. Allein der Gedanke an dein Ausgeliefertsein, trieb mir die Tränen in die Augen. Übereifrig suchte ich das Zimmer nach Störenfrieden ab. Was ich fand, war meine eigene Hilflosigkeit, die sich in den Ecken verbarg.

 

Deine Tage verstrichen reizlos. Das Licht, das durch die Vorhänge fiel, war so blass wie die Farbe deiner Wangen. Klein, dünn und zerbrechlich lagst du unter der viel zu großen weißen Decke. Wie ein dünner Faden, der kaum noch am Leben angebunden war. Doch noch warst du da, ein wenig jedenfalls. Ich konnte dich spüren. Zwar waren deine Augen einen spaltbreit geöffnet und doch es war eine Pforte, die keinen Eintritt mehr gewährte. Ganz sanft strich ich über deine Hand. Sie war warm. „Hallo, ich bin es“, sagte ich leise. Ein winziges Aufflackern. Die Augäpfel tanzten kurz im Schlitz, dann Pause. Du nahmst mich wahr. Ich fühlte es.

Noch konntest du das Leben nicht lassen. Wie zum Beweis umklammertest du ein Kreuz fest mit deiner Hand. Es war zu deinem Anker geworden. Zum Anker in Leben und Tod. Mit den Jahren hattest du den Glauben gesucht und in ihm die Hoffnung auf einen guten Übergang gefunden. Doch gleich neben der Hoffnung stand die Angst. Sie war spürbar. Jederzeit.

Ich schob meine Hand unter deine. Genau dorthin, wo eben noch das Kreuz gelegen hatte. Eine Bewegung hauchzart, ein schmetterlingsflügelgleicher Druck, du schienst den Unterschied zu bemerken. Kurz hüpfte mein Herz vor Freude. Liebevoll betrachtete ich deine Haut. Alt war sie und doch glatt, fast faltenlos, auf deinen Wangen, die mit kleinen roten Äderchen durchzogen waren, wirkte sie wie Samt. Es beruhigte mich zu sehen, dass der Verfall an manchen Stellen eine Pause gemacht hatte.

 

Die Zeit rieselte dahin. Nahezu unbemerkt hattest du irgendwann mit deinem Leben abgeschlossen. Die Unruhe war gegangen und hatte einer Ergebenheit Platz gemacht, die aus deinen Poren strömte. Als hättest du dich der Übermacht ergeben, lagst du gefasst da. Mein Wunsch, du mögest Frieden finden, schien der Erfüllung nahe. Deine Bereitschaft, die letzte Reise anzutreten, schien gereift. Deine Entscheidung wirkte in mir. Sie stimmte mich froh und traurig zugleich. Gab es noch etwas, das ich tun konnte? Du mochtest Marienlieder. Auf der Fensterbank befand sich ein Gesangbuch. Ich schlug es auf. Beim Ave-Maria steckte ein Blättchen. Ich suchte meine Stimme, doch die Tränen, die aufstiegen, verschluckten sie. Ich klappte das Gesangbuch zu und legte es zurück auf die Fensterbank. Die Stille nahm den Schmerz gefangen. Wieder schob ich meine Hand unter deine. Sie war warm und lebendig. Unaufhaltsam tropften satte Tränen auf alte, samtige Haut.

 

Alles hat seine Zeit, auch das Gehen. Der Anruf kam unerwartet. Die Gardinen halb zugezogen, das Licht gedämpft. Durch das halb geöffnete Fenster drang leises Vogelgezwitscher. Eine dichte Stille erfüllte den Raum. Die Schritte im Flur waren leiser als sonst. Der Tod lässt respektvoll werden. Du warst gegangen, ich spürte es. Friedsam ruhte dein Körper, in weiße Laken gehüllt. So rein. So frisch. So unschuldig. Deine Hände gefaltet auf deiner Brust. Das Kreuz darunter befand sich direkt auf deinem Herzen. Sanft strich ich deine Hand. Sie war samtig, aber kalt. Alle Wärme war dir entwichen. Ich hätte weinen sollen, doch es kamen keine Tränen nur ein Gefühl der Erleichterung. Du hattest es geschafft. Endlich.

 

Wie ein angehaltener Atemzug stand die Luft im Raum. Ein feines Gefühl stellte meine Härchen am Körper auf. Da war noch etwas, ich spürte es. Ohne deine Hand loszulassen, sprach ich ganz leise in das fühlbare Nichts hinein: „Schön, dass du da warst. Du wirst immer bei mir sein. Ich trage dich in meinem Herzen und spüre dich in meinen Erfahrungen. Ich werde dich in meinen Erinnerungen warmhalten. Danke!“

 

An meinem linken Ohr summte eine Fliege vorbei. Versonnen schaute ich ihr nach. Ein Lufthauch, der ganz sanft durch das Zimmer strich, trug sie durch das offene Fenster in die unendliche Weite hinaus.

 

 

 

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