Das Jahr der Tränen

Haltos weinte ich ...

 

Zwischen den Feiertagen treffe ich mich seit Jahren mit einer Freundin, um ein kleines Geschenk auszutauschen, eine Tasse Tee zu trinken und ein wenig zu plaudern. Üblicherweise nahmen wir uns zu Begrüßung in den Arm, doch in diesem Jahr war alles anders. Weit voneinander entfernt standen wir vor der Haustür und traten von einem Fuß auf den anderen. Es lag eine Befangenheit in der Luft, die mich schwer atmen ließ. „Ich würde dich ja gerne hinein bitten“, sagte sie, „aber ich darf nicht!“ Verwundert zog ich die Augenbrauen hoch. „Warum nicht?“, fragte ich. „Mein Mann hat solche Angst“, flüsterte sie und schaute zu Boden. Ich nickte stumm. „Ok“, sagte ich leise und übergab ihr das Geschenk, „dann gehe ich jetzt wohl besser.“ „Ja, das ist wohl besser, sonst rastet er wieder aus!“, sagte sie, drehte den Kopf zur Seite und schaute sich ängstlich über die Schulter. Mit unglaublicher Schwere im Herzen ging ich zum Auto zurück und fuhr heim. Ich war so angefasst, dass ich mir sofort Stift und Papier nahm, um meinen Kummer aufzuschreiben, doch noch ehe ein Buchstabe auf dem Blatt stand, flossen schon die Tränen. Haltlos rannen sie aus meinen Augen und spülten all das heraus, was ich seit Monaten in meinem Herzen trug.

 

Ich weinte darüber, dass die Angst größer als die Liebe und noch größer als alles Vertrauen und alle Zuversicht ist, darüber, dass die bestehenden Maßnahmen es geschafft haben, Menschen die Freude, das Mitmenschliche und das Miteinander zu nehmen.

 

Ich weinte darüber, dass es Tote zu beklagen gibt, nicht nur solche, die in Verbindung mit einem Virus verstorben sind, sondern vor allem über die Menschen, die vor Einsamkeit in ihren Wohnungen vor sich hindarbten und siechten. Ich weinte über die, die sich aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung das Leben genommen haben.

 

Ich beweinte die, die aufgrund dieser misslichen Lage eine Angststörung, Zwangserkrankung oder Depression entwickelt haben, die, die jetzt zeitlebens Psychopharmaka nehmen müssen und die, die einen irreparablen Schaden im Grundvertrauen erlitten haben.

 

Ich weinte um die Kinder, die durch das Homeschooling abgehängt werden, die in ein Lerndefizit gerutscht sind, dass sie niemals aufarbeiten können. Ich beweinte die, die aus nervlicher Überlastung der Eltern mit Drohungen, Erpressung und Schlimmerem zur Erledigung ihrer Schulaufgaben gezwungen wurden. Ich weinte um die, die von ihren Eltern keinerlei Unterstützung erhalten haben, die nicht gesehen und in ihrer eigenen Not nicht gehört werden.

 

Ich weinte um die Kinder, die diese Zeit in die Isolation treibt, die keinen Austausch mit Klassenkameraden haben, die keinen sicheren Raum mehr finden, in dem sie sich vor der steigenden Wut und Überforderung ihrer Eltern schützen können. Um die, die ihre Freunde nicht treffen dürfen.

 

Ich weinte um die Frauen, die von ihren Männern geschlagen und gequält werden, weil diese nicht wissen, wie sie sich sonst abreagieren sollen. Ich weinte um die irreparablen Schäden, die tiefen Narben, die in den Familien und auch in den Herzen jedes Einzelnen ihre Spuren hinterlassen werden.

 

Ich weinte um die Jugendlichen, denen die Leichtigkeit genommen wird, die aus Mangel an Möglichkeiten noch tiefer in die Fänge der medialen Welt rutschen und damit in Sucht und Abhängigkeit getrieben werden, um die, die sich dabei gänzlich selbst verlieren werden.

 

Ich weinte um die Menschen, die aus Angst vor Ansteckung keinen Arzt mehr aufgesucht haben, die deren Operation verschoben und damit ihr Leid unnötig verlängert wurde, um die, die an der Folgen der Nichtbehandlung einen schmerzvollen und einsamen Tod gestorben sind.

 

Ich weinte um die Menschen, die alleine in den Altenheimen saßen, um die Dementen und Bettlägerigen, die ihre Zimmer nicht verlassen durften und auch um die, die aus Angst vor Ansteckung seit Monaten keinen Besuch mehr bekommen haben. Ich weinte um die, die nicht mehr selbst entscheiden können, ob sie sich impfen lassen möchten oder nicht.

 

Ich weinte um die Menschen, die auf der Flucht sind, um die Bedürftigen, Traumatisierten und Vertriebenen, um die, die ihr Leben in überfüllten Lagern fristen müssen, um die, denen wir nicht die geringste Aufmerksamkeit schenken, weil wir mit Zahlen und Horrorbildern beschäftigt gehalten werden.

 

Ich weinte um unsere schöne Welt, um unser Klima, darüber, dass wir scheinbar handlungsfähig und entschlossen sind, wenn es um die eigene Gesundheit, nicht jedoch, wenn es um die Rettung und Erhaltung unserer wunderbaren Erde geht.

 

Ich weinte um die Menschen, deren Existenz bedroht ist, denen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Weinte um die Kultur, die es uns einst ermöglichte, unseren Horizont zu erweitern, uns zu zerstreuen und uns erlaubte, Freude und Leichtigkeit zu empfinden.

 

Ich weinte um die zunehmende Monopolisierung, die Staatsverschuldung, die von Stunde zu Stunde größer wird und die wir alle gemeinsam und vor allem die zukünftigen Generationen schultern müssen.

 

Ich weinte um die Etablierung von Hass und Fremdenfeindlichkeit, um Misstrauen, Ausgrenzung und Denunziation, darüber, dass die Kluft, die in der Gesellschaft besteht, die Menschen für immer auseinanderreißen wird.

 

Ich weinte, um den Mangel an Toleranz, Respekt und Achtung, die spürbarer sind, als jemals zuvor. Ich weinte um den Verlust der Mitmenschlichkeit.

 

Haltlos weinte ich, weil ich mich wie in hilfloses Kind fühlte. Ein Kind, das vor einem Trümmerhaufen steht, dass jedes Trümmerteil in die Hand nimmt, anschaut und zu einem Puzzle zusammenlegt. Ich fühlte mich wie ein Kind, das auf das große Ganze schaut und nicht versteht, warum der eingeschlagene Weg der einzig wahre sein soll.  

 

Als meine Tränen getrocknet waren und ich mich innerlich wieder aufgerichtet hatte, begann die zarte Hoffnung in mir aufzukeimen, dass wenn wir uns statt auf die Angst auf die Liebe besinnen würden, Wunder geschehen könnten.

 

 

 

Allmacht