Was ist, wenn nichts mehr ist?

Vor einiger Zeit habe ich begonnen, mich mit der Frage: Was ist, wenn nichts mehr ist, zu beschäftigen. Ich habe mich auf das Gedankenexperiment eingelassen und mir ausgemalt, wie es wäre, wenn ich mein komfortables Leben und alles, was mir lieb und teuer ist, hinter mir lassen müsste. Bereits vor Jahren bin ich dieser Frage schon einmal nachgegangen, um herauszufinden, was mir wirklich wichtig ist. Ich kam schnell zu dem Schluss, dass ich keine Affinität zu Luxusgütern habe und wenig bis gar nichts von dem brauche, was andere als wichtig und lebensnotwendig erachten.

 

Natürlich ist es schön - nein, es ist sogar von unschätzbarem Wert - ein Dach über dem Kopf zu haben, es warm zu haben und duschen zu dürfen, Wechselkleidung zu besitzen, die bestenfalls noch auf die Temperatur abgestimmt werden kann. Und natürlich ist es absolut relevant, etwas zu essen und auch zu trinken zur Verfügung zu haben, denn ohne dem, so heißt es jedenfalls, können wir nicht überleben. Ob das wirklich so ist, habe ich nie überprüft. Ich bin einfach zu feige dazu und das, obwohl ich gesehen habe, dass es funktioniert. Ich habe viel darüber erfahren dürfen und bin sogar Menschen begegnet, die seit Jahren nichts gegessen hatten. Die Aussage, dass der Mensch zu 70 % von kosmischer Energie und nur zu 30 % von physischer Nahrung leben kann, hat mich auf einer tiefen Ebene des Verstehens durchaus beruhigt und mir die Hoffnung gegeben, Zeiten des Mangels überstehen zu können. Auch das Durchführen längerer Fastenkuren, hat mich davon überzeugt, dass dem Essen mehr Bedeutung zugeschrieben wird, als ihm gebührt. Wenn wir also eine gewisse Zeit lang auf die Nahrungsaufnahme verzichten können, was brauchen wir dann?

 

Was ist, wenn es keinen Sprit mehr gibt und ich kein Auto mehr fahren kann? Soweit kein Problem, dann fahre ich mit dem Rad oder gehe zu Fuß. Was ist, wenn ich nur eine Garnitur an Kleidung habe? Dann trage ich sie, solange, bis sie aus den Nähten fällt. Und wenn ich kein Dach mehr über dem Kopf habe, dann schlafe ich in der Natur, zusammengerollt wie eine Katze auf trockenem Laub. Was ist, wenn ich morgens zum Frühstück keinen Kaffee mehr trinken kann? Wenn dem so ist, dann trinke ich Tee und wenn ich keinen Tee mehr habe, trinke ich Wasser. Und was ist, wenn ich kein Wasser habe? Muss ich dann verdursten?

Was ist wirklich wichtig und was brauche ich wirklich um zu leben – zu überleben, mit dieser Frage für ich fort. Ich kam zu dem Schluss, dass es von großer Bedeutung für mich ist, eine Zeit der Entbehrungen nicht allein durchstehen zu müssen. Ich hätte gerne Menschen an meiner Seite, mit denen ich das Schicksal teilen kann. Es wäre sicher hilfreich, wenn wir uns gegenseitig unterstützen, unsere Fähigkeiten und Talente zusammentragen und sie füreinander einsetzten. Wenn wir ein wahrhaftiges, ehrliches Miteinander gestalten, in dem niemand ausgegrenzt wird und sich niemand beweisen muss, wenn wir uns zudem emotionalen Halt geben und dem Leben mit Freude und Leichtigkeit begegnen.

 

Doch was ist, wenn wirklich nichts mehr ist? Auch wenn es an diesem Punkt richtig schmerzte, so habe ich mich dennoch erneut auf diese Frage einlassen. Was ist, wenn selbst die liebsten, die wichtigsten und treuesten Begleiter nicht mehr an meiner Seite sind? Wenn der Partner, das Kind, die Eltern und Freundinnen mich nicht mehr umgeben? Wenn sie und auch die anderen Menschen, die mir hilfreich zur Seite stehen, nicht mehr da sind. Spätestens jetzt wurde es eng in meiner Brust, schnürte mir die Kehle zu und ließ Tränen in meinen Augen aufsteigen. Ich habe mir erlaubt dem nachzufühlen und kam, wie es zu erwarten war, an eine existenziell-emotionale Hürde. Wenn dem so ist, dann bin ich allein – ganz allein.

 

Was ist, wenn nichts mehr ist und ich allein bin? Ein gruseliger Gedanke, den ich am liebsten schnellstmöglich beiseitegeschoben hätten. Und dennoch ließ ich ihn zu, mich hineinfallen und traute mich ihn weiterzudenken. Ich bin allein und ich habe nichts mehr. Lohnt es sich dann überhaupt noch zu leben, fragte ich mich. Kann ich mich selbst in dieser Misere überhaupt aushalten, finde ich einen Ankerpunkt, um zu bleiben? Ist mein Überlebenstrieb stark genug, um all den Widrigkeiten entgegenzustehen? Genüge ich mir selbst? Würde mich der Kummer über das, was einst mein Leben ausmachte, überhaupt leben lassen können oder würde ich jämmerlich zugrunde gehen? Bin ich mir selbst nahe genug und vertraue ich dem Leben bedingungslos, sodass ich in der Lage bin, alles zu überstehen, was sich zeigt? Ich weiß es nicht. Was ich in diesen Augenblicken dachte, war reine Hypothese, denn so viel Leid, war ich nur schwerlich in der Lage mir vorzustellen. Ich musste schlucken und tief durchatmen, um den Faden wiederaufzunehmen, tat es und ließ mich noch tiefer ein.

 

Was wäre, wenn ich mich dem großen Loslassen einfach hingeben würde? Was wäre dann? Das einzige, was ich zu verlieren hätte, wäre mein Leben. Wie sehr hänge ich daran? Vor allem dann, wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war. Bin ich bereit, alles bis in die letzte Instanz hinein loszulassen? Bin ich wirklich bereit für einen solch großen Schritt? Wie weit erlaube ich mir, dem Tod ins Auge zu schauen, ihn einzuladen und als Teil meines Lebens anzunehmen? Hänge ich wirklich so sehr am Leben, dass ich mich vor dem Tod fürchten muss? Ist die Vorstellung nicht wesentlich schlimmer, dass nichts mehr von dem existiert, was mir bislang wichtig war, als selbst nicht mehr am Leben zu sein? Ist es nicht viel schlimmer, mir vorzustellen, dass niemand mehr an meiner Seite ist, denn ich wertschätze, liebe und brauche? Wovor ängstige ich mich wirklich?

 

Sind es nicht all die Anhaftungen des Lebens, denen wir eine so große Bedeutung bemessen, ohne die wir nicht glauben, leben zu können, die uns letztlich blockieren und das wahre Dasein verhindern? Sind es die Dinge, denen wir Wichtigkeit verleihen und sie an uns binden, die letztlich ein befreites Denken und Handeln verunmöglichen? Begegnen wir nicht, je tiefer wir tauchen, immer wieder der Frage nach dem Sinn von Leben und Tod und müssen uns, ob wir wollen oder nicht, unserer Angst stellen? Uns fragen: Bin ich jederzeit bereit, das Leben hinter mir zu lassen? Bereit, mich dem Leben mit jeder Faser meines Seins zu stellen, gleichgültig, was auf mich zukommt? Bin ich bereit, mich auf das Unbekannte und Veränderliche einzulassen – auf das, was ist, wenn nichts mehr ist. Bin ich wirklich bereit?

 

Es ist schwer, diesen Gedanken zuzulassen, ihn zu Ende zu denken und tatsächlich in sich wirksam werden zu lassen. Wenn wir es uns allerdings erlauben und ich habe es getan, dann geraten wir an eine innere Schwelle, die wir nicht gerne überschreiten möchten. Und doch ist es nur ein kleiner Schritt. Mit der Bereitschaft zu forschen und sich selbst zu erfahren, gelangen wir in den Raum, der hinter allen Konstruktionen und Anhaftungen liegt. In ihm wohnt das allumfassende Vertrauen, das Angebundensein, an etwas, das weit über uns hinaus geht, in dem wir aufgehoben sind.

 

Ich empfand und empfinde es immer noch als unendlich wohltuend, hilf- und lehrreich mich diesen Fragen zuzuwenden, sie auf allen Ebenen meines Körpers durchzufühlen und zu durchdenken. Es ist eine intensive Erfahrung und die Beschäftigung damit kratzt am Fundament, lockt die Tränen hervor und vergegenwärtigt uns den Schmerz der Vergänglichkeit. Doch obwohl es schmerzhaft war, habe ich es als eine Befreiung erlebt und sogar eine Erkenntnis gewonnen: Wenn nichts mehr ist, bin ich selbst noch da! Ich bin die, die das Jetzt und das eigene Erleben gestaltet. Ich bin die, die entscheiden kann, was wirksam ist und was wirkt. Ich bin die, die dem Leben eine Richtung geben kann, die sich selbst Anker ist. Und ich bin da und bleibe, weit über die Begrenztheit des Menschseins hinaus.

 

 

 

Die Frage: Was ist, wenn nichts mehr ist, ist eine Herausforderung an sich selbst, um zu überprüfen, wie weit wir dem Leben vertrauen und bereit sind, uns einzulassen und loszulassen. Wenn wir uns stellen, können wir nur gewinnen, denn alles, was wir anschauen und zu uns nehmen, verliert seine Kraft und seinen Schrecken. Es macht uns handlungsfähig und eröffnet neue Perspektiven.

Wer sich erlaubt, die Endlichkeit des Daseins fühlen, wird die Freude am Leben entdecken. Doch wer tief taucht, braucht gute Anker. Und so ist es immer eine Frage des Vertrauens, wie viel Tiefe, Nähe und Hinwendung wir uns selbst erlauben. Entdecken können wir immer nur uns selbst, unsere eigenen Ängste und Blockaden, unsere Liebe und unser Vertrauen. Je tiefer wir tauchen, umso sicher werden wir beim Schwimmen, nicht nur in bekannten, sondern auch in unbekannten Gewässern.  Wir erkennen dabei, dass wir das Meer, das Boot, der Anker und der Himmel zugleich sind.

 

 

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