Bittere Pillen

"Diese Zeit hat tiefe Kerben hinterlassen und wenn ich heute in den Spiegel schaue, habe ich das Gefühl nicht zwei Jahre älter geworden zu sein, sondern zehn.“ Eine Kurzgeschichte nach wahren Begebenheiten.

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Wir teilen uns eine Zeitung. Brigitte liest sie morgens, ich nachmittags. Sie wohnt im Haus gegenüber. Einmal täglich gehe ich rüber, dann plaudern wir ein wenig und die Zeitung wandert von einer Hand in die andere. Brigitte ist 78 Jahre alt, drei Jahre älter als ich. Beide leben wir am Rande einer kleinen Stadt im Hessischen. Nein, wir sind nicht befreundet, das kann man nicht sagen, eher gut bekannt. Man kennt sich eben, wenn man seit 40 Jahren in der gleichen Straße wohnt und das Schicksal des Alleinseins teilt. Brigittes Mann starb vor zwölf Jahren an Prostatakrebs und meiner hat sich vor 25 Jahren mit Ursula, seiner damaligen Arbeitskollegin, verflüchtigt. Heute sitzt er allein in einer kleinen Wohnung in Hagen. Das einzig verbliebene Bindeglied ist unsere Tochter Martina, die 250 km entfernt in Frankfurt, mit Mann und Tochter Lea wohnt.

 

Ich habe nie ein aufregendes Leben geführt. Alles war völlig normal. Arbeiten, Haushalt, Kind und dann die Rente. Ich kann nicht klagen und bis auf die Knochen, die schon seit ein paar Jahren schmerzen, ist gut so, wie es ist. Meine Ärztin sagt, dass ich Rheuma habe. Aber seit ich die Tabletten nehme, die mein Immunsystem unterdrücken, ist der Schmerz nicht mehr so schlimm. Der Blutdruck ist zu hoch, aber dafür gibt es ja auch Tabletten und seitdem ich die einnehme, komme ich zurecht.

 

Die Tage sind gleich, was will man in meinem Alter auch noch erwarten. Zu viel Unruhe bringt mich aus dem Tritt, dann schlafe ich schlecht und bin am nächsten Tag ganz flatterig. Wenn alles seinen Gang geht, bin ich zufrieden. Ein bisschen Einkaufen, eine kleine Plauderei auf der Straße, ein warmes Mittagessen und abends Fernsehen und schon ist meine kleine Welt in Ordnung.

 

Die Rente ist nicht üppig, deshalb ist sowieso nicht so viel drin. Hin und wieder mal eine kleine Ausfahrt, mal ein paar Blumen für den Balkon, oder sonntags ein Stückchen Kuchen im Kaffee. Ich wollte nie die Welt sehen, nie große Reisen machen, es reichte mir, in den Harz oder an die See zu fahren. Nicht allein natürlich, das bin ich schließlich schon die ganze Zeit. Ich mache gerne mal eine Busreise, da ist immer Programm und manchmal wird im Bus auch gesungen. Das gefällt mir gut. Die Tabea, meine Freundin, hat mich früher oft begleitet, aber das war einmal, denn nach Corona, ist nicht vor Corona und so ist Tabea auf der Strecke geblieben. Sie ist nicht an Corona gestorben, nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht. Es ist lediglich unsere 50-jährige Freundschaft, die diese Zeit nicht überlebt hat. Aber warum soll ich darüber jammern, es ist, wie es ist. Schließlich war sie es, die unbedingt einen anderen Weg gehen musste. Nun braucht sie sich nicht wundern, dass sie außen vor ist.

 

Ja, ja, Corona. Ich dachte wirklich nicht, dass ich auf meine alten Tage noch so etwas erleben müsste.

 

Gestern, am Montag, ging ich wie jeden Tag zu Brigitte, um die Zeitung abzuholen. Sie guckte schon so komisch aus den Augen als sie die Tür öffnete und sagte, dass ihr irgendetwas in den Knochen stecke. Am Sonntag sei Herbert, ihr Cousin, zum Kaffeetrinken dagewesen und sie erzählte mir von den Neuigkeiten, die er mitgebracht hatte.

 

Ich habe gerade den Mittagstisch abgeräumt, als das Telefon schellt. Brigitte ist dran. Ich habe Corona, krächzt sie in den Apparat und war gerade beim Doktor. Der Schnelltest war positiv und jetzt warte ich auf das Ergebnis vom PCR-Test. Aber ich bin mir sicher, dass ich es habe. Herbert hat es auch. Wie, frage ich, wie kann das sein? Du bist doch geboostert, dann bekommt man das doch nicht. Doch sagt Brigitte, das kann man trotzdem kriegen. Durchbruchsinfektion, heißt das. Man kann es bekommen, aber eben nicht so schwer, sagen die Medien.

 

Und Herbert, der ist doch auch geboostert, hat der den Mist etwa angeschleppt? Ja, sagt Brigitte, so sieht es aus, aber lass uns mal für heute Schluss machen, ich muss mich jetzt hinlegen. Ich habe ziemliche Kopfschmerzen und bin ganz klapperig auf den Beinen. Die Zeitung lege ich dir vor die Tür, dann kannst du die gleich abholen. Wir verabschieden uns und ich muss mich hinsetzen.

 

Corona. Corona, denke ich, alle Welt hat Corona, als gäbe es nichts anderes mehr. Ein Zucken durchfährt mich und ich muss hart schlucken. Was ist, wenn ich es jetzt auch bekomme? Wir haben doch gestern lange zusammengesessen. Was ist, wenn ich auch in Quarantäne muss? Normalerweise wäre ich jetzt rübergegangen, um die Zeitung zu holen, aber irgendetwas hält mich zurück und presst mich bleischwer auf den Küchenstuhl. Ich sehe, wie Brigitte die Zeitung auf dem Eingangspodest ablegt. Dann fällt die Tür ins Schloss. Ich fühle mich wie gelähmt, starre aus dem Fenster und bekomme es mit der Angst zu tun. Ich müsste nur heruntergehen und die Zeitung reinholen, aber was ist, wenn da die Viren drankleben, wenn die dann auf mich überspringen? Geht das überhaupt? Nein, sage ich mir, das geht nur über die Luft und schließlich bin sich doch auch geboostert. Und das hilft! Das sagen die zumindest immer und es steht auch in der Zeitung. Obwohl ich mir gut zurede, bleibt ein Unbehagen, das sich in meiner Brust ablegt.

 

Wir haben doch immer alles gemacht, denke ich. Ohne zu murren, haben wir getan, was angeordnet wurde: Kontaktverbote eingehalten, Abstand gewahrt, Masken aller Arten getragen, Ausgangssperren ernst genommen, Hände gewaschen und desinfiziert, im Lockdown gesessen und uns dreimal impfen lassen. Wir haben alles richtig gemacht und jetzt das. Brigitte hat Corona und ich vielleicht auch.

 

Ich versinke auf dem Küchenstuhl und düstere Gedanken packen mich. Der erste Lockdown war der schlimmste. Von einem Tag auf den anderen stand mein Leben still. Alles, was mir lieb und wichtig war, wurde untersagt. Doch ich hatte Verständnis, viel Verständnis und war bereit, alles zu tun, was nötig war. Die Tage und Wochen kleckerten dahin. Mein Lebensmut und meine Hoffnung versickerten wie Wasser, das auf durstigen Boden trifft. Aushalten war die Devise. Ich ertrug es mit Fassung und schwerem Herzen.

 

Seit Jahren kommt Lea, meine Enkeltochter in den Osterferien für eine Woche zu mir. Das ist mein großes Highlight und darauf freue ich mich das ganze Jahr. Sie war acht Jahre alt als Corona die eisigen Finger ausgestreckte und unseren Kontakt einfror. Die Osterferien kamen, aber sie nicht. Weder in dem Jahr, noch im darauffolgenden und auch in diesem nicht. Ich habe sie jetzt seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen und wie es aussieht, wird sich daran auch nichts ändern. Es sei zu gefährlich, sagt Martina, meine Tochter. Lea wäre schließlich in der Schule gewesen und wenn sie mich anstecken würde, dann würde sie ihres Lebens nicht mehr froh. Es sei besser für uns alle, sagt Martina, wenn wir warten bis alles vorüber ist. Wir könnten doch telefonieren. Aber was ist schon telefonieren gegen anfassen, gegen kuscheln, gemeinsam Kuchen backen, Eis essen gehen, Geschichten erzählen und miteinander die Zeit vertrödeln? Zu Weihnachten haben sie mir ein Fotobuch geschickt. Lea ist groß geworden. Sie ist gewachsen, ohne dass ich einen Anteil dran gehabt hätte. Unser Band ist gerissen, das kann ich fühlen. Und Martina? Was ist mit ihr passiert? Von Beginn an behandelt sie mich wie eine Aussätzige. Die vulnerable Mutter. Die alte Frau mit Vorerkrankungen. Die schützenswerte Person. Nein, wir besuchen dich nicht, sagt sie, das ist zu gefährlich für dich. Wir wollen nicht schuld sein, wenn du die Krankheit bekommst und daran stirbst.

 

Ich habe ihre Sorge verstanden, gut sogar. Anfangs war ich sogar dafür, denn ich hatte Angst. Angst um mein Leben. Aber je länger ich völlig allein im Lockdown saß, je mehr schwand meine Angst vor der Krankheit und wurde durch ein Gefühl nagender Einsamkeit ersetzt. Die Türen des Lebens waren wie vernagelt und ich wurde dazu verdammt, mein Leben in Einsamkeit zu fristen. Ich war froh, dass es Tabea gab. Tabea ist eine unerschrockene und pragmatische Frau in meinem Alter. Sie bekam Corona als eine der Ersten und ich war in großer Sorge um sie. Aber Tabea hat die Krankheit einfach abgeschüttelt und sagte, sie habe keine Angst gehabt, schließlich tue sie etwas für ihr Immunsystem und sie werde das schon schaffen, so wie sie es immer geschafft hat. Und genauso war es. Tabea war mein Anker in dieser Zeit und als der zweite Lockdown anfing, war sie es, die mir die einzige Stütze war. Damals kam ich kaum noch aus dem Bett, hatte keinen Appetit mehr und saß schwermütig vor dem Fernseher. Ich wollte nicht mehr, war meines Lebens überdrüssig. Meine Ärztin verschrieb mir etwas gegen Depressionen. Das nehme ich bis heute ein. Aber Tabletten helfen nicht gegen Berührungsmangel.

 

Diese Zeit war schrecklich für mich. Ich wollte zwischen Menschen sein und durfte es nicht. Wenn ich es wagte, dennoch zum Einkaufen zu gehen, wurde ich böse angeschaut. Warum geht eine vulnerable Frau ins Geschäft, stand den Leuten ins Gesicht geschrieben. Kann die sich ihre Lebensmittel nicht nach Hause bringen lassen? Keiner hat mich gefragt, was mir wirklich fehlt. Alle haben gedacht, wenn man genügend Brot und Butter im Hause hat, dann ist doch alles in Ordnung. Aber so ist es nicht.

 

Tabea hat mich verstanden und sie hat sich auch von den bösen Blicken nichts angenommen. Sie hat immer gesagt, was geht mich die Angst der anderen an. Die müssen doch mit sich selber klarkommen. Aber so bin ich nicht. Ich lege schon Wert darauf, was andere sagen und möchte auch nicht schräg angeguckt werden. Tabea wäre auch in der Zeit des Lockdowns zu mir gekommen, aber das wollte ich nicht, auch wenn mir die Nähe zu anderen Menschen wirklich gefehlt hat.

 

Tage können so unendlich lang werden, wenn man nichts tun darf. Je länger es dauert, umso schmerzhafter wird es. Es ist nicht so, dass wir uns in der Nachbarschaft in den Armen liegen oder dass wir alten Freundinnen uns bei jeder Begegnung um den Hals fallen. Aber auch eine kurze Berührung am Arm oder ein Blick in die Augen können einem die Kraft zum Weiterleben geben. Meine Kraft ist weniger geworden, das steht mir im Gesicht geschrieben. Diese Zeit hat tiefe Kerben hinterlassen und wenn ich heute in den Spiegel schaue, habe ich das Gefühl nicht zwei Jahre älter geworden zu sein, sondern zehn.

 

Der Frühling nimmt Fahrt auf. Unglaublich, es ist der dritte Frühling in der Pandemie. Ich schaue auf den blühenden Kirschbaum, der unbekümmert vor Brigittes Fenster wächst. Blütenblätter fliegen von einer kleinen Windbö angestoßen wie Schneeflocken durch die Luft. Die Natur hat kein Corona, sie folgt ihrem Rhythmus, gleichgültig, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht.

 

Die Impfung war ein Segen für mich. Nie wieder Lockdown, nie wieder eingesperrt, nie wieder einsam. Ich hatte keine Angst vor der Krankheit, selbst wenn sie im Fernsehen Bilder von Särgen und Intensivstationen zeigten. Am Ende des Lebens weiß man, dass man sterben muss. Früher oder später packt es jeden. Und irgendetwas wird zum Tode führen. Das kann eine Krankheit, ein Virus oder einfach das Alter sein. Das ist, wie es ist und da braucht man sich nichts vorzumachen. Tabea sagt immer: Der Tod gehört zum Leben, wie die Blätter zum Baum. Sie ist mutig. Aber wenn man so etwas laut ausspricht, dann wird man von Jüngeren, die einen unbedingt schützen wollen, gar nicht verstanden. Also sagt man lieber nichts. Es ist ja schön, noch nie haben sie sich so um die Alten bemüht. Tabea sagt, das ist Zwangssolidarität und hat mit wahrhaftigem Interesse nichts zu tun. Wer mitmacht, ist gut und wer nicht mitspielt, ist böse. Aber so einfach ist die Welt nicht. Manchmal verstehe ich nicht, was Tabea meint, aber ich spüre, dass ein wahrer Kern darin steckt.

 

Eine Graugans lässt sich behäbig auf dem Sims von Brigittes Haus nieder. Das habe ich in all den Jahren noch nie gesehen. Ich stehe auf und trete ans Fenster. Da ist noch eine, zwei Häuser weiter. Beide schauen in eine Richtung, stehen dort und warten. Mein Blick fällt auf die Zeitung. Unangerührt liegt sie vor Brigittes Haustür. Sie wird dortbleiben. Heute zumindest.

 

Ist da ein leichtes Kratzen in meinem Hals, frage ich mich, oder bilde ich mir das ein? Es kann schnell gehen, habe ich gelesen. Aber wie kann das passieren? Brigitte ist doch geboostert und die Geboosterten können doch nichts übertragen, stand da, oder zumindest weniger. Aber wenn sie es von Herbert hat, der auch geboostert ist, dann bin ich wohl auch an der Reihe. Ich nicke bekräftigend. Ja, wir können es bekommen, aber eben keinen schweren Verlauf, murmele ich vor mich hin. Ich versuche mir selbst Mut zu machen. Die Impfung schützt, denke ich, das sagen sie doch immer, zumindest vor einem schweren Verlauf. Ich meine mich zu erinnern, dass Impfungen normalerweise vor Krankheiten schützen, also, dass man sie weder bekommen noch weitergeben kann. Aber bei Corona ist wohl alles anders. So auch, dass allerhand Leute in unserem Ort nach der Impfung flachlagen. Einige hatten nur eine Grippe, andere lahme Arme nach der Spritze, aber richtig schlimm hat es die Enkeltochter von Sigrid erwischt. Sie ist erst zwölf und wollte unbedingt mit zur Klassenfahrt. Nach der zweiten Spritze musste sie in Krankenhaus. Herzmuskelentzündung. Die Ärzte sagten, das komme von der Impfung. Sigrid will nicht darüber reden, sonst gucken die Leute so komisch, sagt sie. Die Freundin von Brigittes Tochter ist mit 45 Jahren einfach in der Küche umgefallen und war tot. Der Mann wusste gar nicht, wie ihm geschieht. Seine Frau war kerngesund. Und die armen Kinder stehen jetzt ohne Mutter da. Man munkelt unter der Hand, dass es auch von der Impfung kam, aber keiner spricht es laut aus. Ich war mit Brigitte zusammen im Impfzentrum. Sie hat die Spritzen gut vertragen. Ihr Blutdruck und ihre Zuckerwerte waren zwar ein paar Wochen lang durcheinander, aber das hat der Arzt wieder hinbekommen und jetzt ist alles wieder gut. Bei einer von den Romméfrauen lief es nicht so rund. Bei der hing wochenlang eine Gesichtshälfte runter, das ist bis heute noch zu sehen. Der Arzt sagte, dass so etwas bei alten Menschen schon mal vorkommt. Gemacht hat er nichts. Ja und bei mir kam die Gürtelrose wieder zum Vorschein. Nach der zweiten Spritze leicht und nach der dritten Spritze ziemlich stark. Meine Hausärztin meinte, dass viele Patienten das zurzeit hätten, ich sollte Tabletten nehmen und es eincremen. Es sei nicht so schlimm und würde vorübergehen. Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne, denke ich und so ist es wohl auch mit der Impfung. Aber irgendwie habe ich ein komisches Gefühl.

 

Ob ich mal bei Brigitte anrufe? Lieber nicht, sie wollte sich doch hinlegen. Und wenn ich es jetzt auch habe? Was dann? Wer hilft mir dann? Am besten wird es sein, wenn ich noch etwas einkaufe. Ich setzte ja die Maske auf und halte Abstand, dann kann doch nichts passieren, oder doch? Letztens habe ich gelesen, dass Masken gar nicht gegen Viren schützen. Aber das war sicher eine von den üblichen Fakenews, da will man uns wieder etwas weiß machen, was gar nicht stimmt. Wenn Masken nicht gegen Viren schützen würden, dann würde man es uns doch sagen. Ich werde sie heute einfach nicht nur im Geschäft aufsetzen, sondern sofort, wenn ich das Haus verlasse. Sicher ist sicher!

 

Ich bin durch das Geschäft gehuscht, ohne anzuhalten und ohne mit jemandem zu reden, da ist sicher nichts passiert. Als ich die Maske im Flur absetze, habe ich den Eindruck, dass es doller in meinem Hals kratzt. Ich rufe Martina an, aber sie geht nicht ran. Auf die Mailbox möchte ich nicht sprechen, schließlich soll sie sich keine Sorgen machen. Aber was wollte ich ihr eigentlich erzählen, frage ich mich, als ich den Höher auflege. Martina wird außer sich sein, wenn sie hört, dass meine Nachbarin Corona hat. Sie wird mich unverzüglich zum Arzt schicken. Sie hat so viel Angst vor der Krankheit, dass sie mich vermutlich nicht mehr anrufen wird, weil sie glaubt, sich durch das Telefon anstecken zu können. Ich möchte mit jemandem sprechen, aber ich weiß nicht, mit wem. Tabea, denke ich, ich würde gerne mit Tabea sprechen. Aber das geht ja nicht. Sie war von Anfang an gegen die Impfung. Geschimpft hat sie regelrecht darauf. Notfallzulassung, Menschenexperiment, keiner weiß, was in dem Zeug drin ist. Außerdem sei sie immun, sagt sie. Sie habe die Krankheit durchgemacht und Antikörper. Mehr braucht es nicht. Warte doch noch etwas ab, hat sie gesagt. Aber ich wollte nicht. Ich wollte Lea sehen, zum Rommé und ins Café. Ich wollte keinen Lockdown mehr und nie wieder einsam am Küchentisch sitzen. Meine Kraft hatte mich verlassen und ich wollte einfach mein altes Leben zurückhaben. Und so schlimm kann die Impfung doch nicht sein, habe ich gedacht, sonst würde die Regierung sie doch nicht so anpreisen. Gamechanger, Licht am Horizont, das Mittel der Wahl, raus der Pandemie, hieß es immer und ich habe es so gerne geglaubt. Tabea war skeptisch. Wenn man etwas wie Sauerbier anpreisen muss, dann ist da auch ein Haken dran, sagt sie. Sie ist ein ganz anderer Schlag als ich. Sie hat mir mit ihrer Klarheit immer den Kopf gewaschen und mich innerlich geradegerückt. Ich kann dir zwar auf die Beine helfen, hat sie gesagt, aber laufen musst du schon allein. Sie war zwar nicht für das Impfen, aber sie hat es mir nicht ausgeredet, sondern gesagt, ich soll tun, was ich für richtig halte. Und ich habe es gemacht, sogar dem Termin entgegengefiebert.

 

Es war toll, als ich die erste Spritze bekam, fast wie eine Erlösung. Die Spritze war der Freifahrtschein für das Leben und ich habe es mit einem Glas Sekt gefeiert. Nach der zweiten Spritze war alles wieder gut. Das Leben bekam neuen Schwung und ich fühlte mich sicher und geschützt. Ich konnte wieder alles machen und hätte Tabea gerne dabeigehabt. Aber die war bockig. Nein, das mache ich nicht, sagte sie, ich bin immun. Wie oft habe ich ihr in den Ohren gelegen und sie zu überreden versucht. Du bist doch ausgegrenzt, kannst nicht an nichts teilnehmen, lass dir doch einfach die Spritze geben, dann können wir wieder etwas zusammen unternehmen. Außerdem schützt du dich und andere, und wenn du es nicht machst, bist du unsolidarisch. Das hat ihr irgendwann doch zugesetzt und die Gespräche wurden seltener und befangen. Richtig schlimm wurde es allerdings erst, als Martina mir die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt hat: Sie oder wir. Wenn du dich weiterhin mit Tabea, dieser Schwurblerin, triffst, dann sehen wir uns nicht mehr. Martina meinte, dass von Tabea eine unkalkulierbare Gefahr ausgehe und dass sie es sein wird, die uns das Virus ins Haus schleppt und uns alle umbringen wird. Was sollte ich machen? Ich hatte keine Wahl.

 

Wenn Tabea dann angerufen hat, bin ich einfach nicht mehr rangegangen und als sie einmal vor meiner Tür stand, habe ich so getan, als sei ich nicht zu Hause. Irgendwann war es vorbei und ich habe nichts mehr von ihr gehört. Wie es ihr wohl geht? Ich schüttele den Gedanken ab und schaue zum Himmel. Flugzeuge hinterlassen ein weißes Gittermuster auf dem hellblauen Firmament. Die Flugzeuge fliegen fort, doch der weiße Schleier bleibt und breitet sich ganz langsam aus. Früher war der Himmel klarer, denke ich.

 

Heute keine Zeitung. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher an. Mein Hals wird immer rauer. Die Bilder, die dort gezeigt werden, sind etwas zum Abgewöhnen. Bomben, Not, Krieg, leidende Menschen, Krankenhäuser, Flüchtlinge. Wenn man noch nicht schlecht drauf ist, dann wird man es spätestens, nachdem man den Apparat angemacht hat. Ich schalte um auf leichte Kost und nicke ein.

 

Das Brot, dass ich zum Abend esse, schiebt sich kratzend an meinem wunden Hals vorbei. Ich glaube, es wird schlimmer. Morgen rufe ich mal bei Brigitte an und erkundige mich, wie das mit dem PCR-Test geht.

 

Früher hat es mir geholfen, wenn ich bei Halsschmerzen mit Schal geschlafen habe, aber das hilft bei Corona vermutlich nicht. Ich mache es trotzdem und koche mir einen Salbeitee.

 

Die Nacht ist unruhig. Ich schlafe schlecht, werde oft wach und träume mehr als sonst. Als ich am Morgen aufwache, habe ich das Gefühl, dass der Halsschmerz sich bis in die Brust hinuntergezogen hat. Ich setze mich auf und huste leicht. Wenn ich zum Arzt gehe und einen Test machen lasse und dieser positiv sein sollte, muss ich in Quarantäne. Quarantäne ist Lockdown in kurz. Ich weiß nicht, ob ich es noch einmal überstehe, völlig allein in der Wohnung eingesperrt zu sein. Ich schlucke hart und fühle mein Gewissen.

 

Mit den Gedanken bepackt, gehe ich in die Küche und schaue, wie jeden Morgen, aus dem Fenster. Die Jalousien in Brigittes Küche sind noch unten. Auf ihnen malt sich das Blaulicht des Krankenwagens ab. Ich trete nah an die Scheibe heran und sehe, wie Brigitte auf der Trage liegend im Krankenwagen verstaut wird. Mir gehen die Knie weg. Die Impfung schützt vor schwerem Verlauf. Sie schützt. Sie schützt. Wie ein Mantra sage ich die Worte auf. Krankenhaus. Quarantäne. Schwerer Verlauf. Ich habe Angst. Das Schlucken schmerzt und ich muss mich an der Fensterbank festhalten, um nicht zusammenzusinken.

 

Es ist wie in einem Film. Alles, was wahr ist, wird unwahr. Alles, was da ist, verschwimmt. Der Krankenwagen fährt langsam die Straße hinunter, hält am Stoppschild und biegt ab. Mein Blick streift die Zeitung. Ungelesen liegt sie vor der Eingangstür und wartet darauf, dass sich die Nachrichten, die in ihr stehen, in den Köpfen der Leser verfestigen.

 

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