Ich habe lange überlegt, bis ich mich entschieden habe zu schreiben, lange überlegt, ob ich meinen Empfindungen auf diese Weise Ausdruck verleihen möchte, lange überlegt, ob ich das, was ich schreiben möchte, in diesen Zeiten überhaupt noch schreiben sollte und ungestraft tun darf.
Schreiben, ist meine Möglichkeit die Eindrücke des Lebens zu reflektieren und zu verarbeiten. Es gab viele Eindrücke in den letzten eineinhalb Jahren und so habe ich mehr geschrieben als jemals zuvor. Vor einigen Wochen versiegte mein Schreibstrom zusehends und es wurde still in mir. Jegliches Bedürfnis mich mitzuteilen schwand. Ich schaute gewissermaßen fassungslos auf die Dinge, die sich um mich herum ereigneten und mir fehlten schlichtweg die Worte. Mal hielt ich die Gedanken fest, dann ließ ich sie wieder los, um ihnen nicht die Möglichkeit zu geben, sich in mir festzusetzten. Auch wenn ich so gut wie möglich, all das, was sich im Außen abspielte, von mir fernzuhalten versuchte, waren die Geschehnisse doch präsent.
Trotz aller Freude, die ich über den Rückgewinn der Freiheiten empfand, vor allem für die Menschen, die sehr unter den Einschränkungen gelitten haben, stieg auch ein schaler Beigeschmack in mir auf, ein Unbehagen, dass sich vor die Freude stellte und sie einnebelte. Ich spiele schon lange nicht mehr im üblichen Spiel des Anhäufens und Dauerbespaßens mit, suche den Sinn meines Lebens nicht im Shoppen, Konsumieren und Verreisen. Vielmehr widme ich mich dem Wesentlichen, dem Kern, der allen Dinge innewohnt. Obwohl ich dem Kleinen und Feinen meine Aufmerksamkeit schenke, versuche ich den Blick für das große Ganze zu wahren.
Und so begann ich zu schreiben. Ich hatte einen Plan im Kopf und musste wie so oft feststellen, dass sich etwas ganz anderes auf dem Papier zeigte, als ich beachsichtige zu schreiben. Aus mir heraus floss eine Geschichte, an der ich euch teilhaben lassen möchte, so ihr es mögt.
Am Puls der Zeit
Der Bauer hatte einige Hühner im Stall. Sie waren produktiv, sodass er mit Freude auf das blicken konnte, was sie täglich zustande brachten. Eines Tages hörte der Bauer vom Fuchs. Das war nichts ungewöhnliches, denn Füchse gab schon seit Menschengedenken. Doch den Bauern erfasste die Sorge, denn er sah seinen Bestand in Gefahr. Die Nachricht, dass der Fuchs ein äußerst übler Geselle sei, wurde in zahlreichen dramatischen Beschreibungen auf allen Wegen an ihn herangetragen. Es hieß, der Fuchs sei hinterhältig, unberechenbar und bösartig. Klammheimlich solle er sich in der Nacht anschleichen und nahezu unbemerkt die alten und kranken Tiere reißen. Nichts könne ihn aufhalten, denn er sei schlau und von unbändigem Hunger getrieben. Der Bauer bekam es mit der Angst zu tun.
Seine anfängliche Lähmung, schlug in blinden Aktionismus um und er sagte dem Fuchs den Kampf mit allen Mitteln an. Er stellte sich auf ein zähes Ringen ein, denn schließlich galt es sein hoch produktives Legevieh zu schützen. Er hörte von anderen Bauern, wie sie sich gegen den Fuchs wappneten. Auch wenn es natürlich ist, dass ein Fuchs ein Huhn reißt, kam es für ihn nicht infrage dem Fuchs freie Bahn zu lassen. Nein, er wollte kämpfen und ihm zeigen, wer der Herr über Leben und Tot ist. So machte er sich zum Ziel den Feind auszurotten. Sein Kampfeswille stieg ihm zu Kopf und vernebelte ihm die Sinne. Nur ein Weg sei der richtige, war das Resultat seiner nebeldurchzogenen Überlegungen. Er wollte die Hühner so lange einsperren, lautete sein Plan, bis jemand ein starkes Gift gegen Füchse entwickelte hatte oder bis alle Füchse auf natürliche Weise verendet waren, sodass kein Fuchs jemals mehr ein Huhn reißen könnte. Es gebe keine Alternative, murmelte der Bauer immer wieder vor sich hin, dies sei der einzige und beste Weg seine Hühner vor dem Feind zu schützen. Er war in den Krieg gezogen und hatte sich den Kampf auf die Fahne geschrieben. Den Kampf gegen einen natürlichen Gegner. Mit wachsamen Augen patrouillierte er täglich um den fest verriegelten Stall herum, in dem die Hühner sehnlichst auf ihren Freigang warteten. Zur Besänftigung streute er den ausharrenden Tieren Körner auf den Boden und säuberte den Stall akribischer denn je. Zur Aufmunterung stellte er ihnen sogar ein Radio hinein und hoffte, dass die feine Blasmusik, die aus den Boxen dudelte, die Legekraft der Hennen aufrechterhielt. Obwohl er immer wieder lüftete, war es stickig und muffig im Stall.
Die Tiere zeigten zusehends merkwürdige Verhaltensweisen, denn ihnen fehlte die Frischluft, der natürliche Boden und die Abwechselung. Auf den Stangen sitzend, ließen sie die Köpfe hängen. Die Enge macht ihnen zu schaffen. Sie wussten nicht mehr, wie sie ihrem natürlichen Bewegungs- und Entdeckungsdrang nachgehen sollen, wussten nicht, wo sie mit sich hinsollten. Voller Überdruss begannen sie sich gegenseitig anzugreifen. Sie nahmen sich die Kleinen und Schwachen vor und picken auf sie ein, rupften ihnen die Federn aus und stießen ihnen mit ihren spitzen Schnäbeln in die Augen. Manche überfraßen sich aus Langeweile. Diejenigen, die an Hühnerklappe scharrten, um sich Ausgang zu verschaffen, wurde vom Platze vertrieben und von einem wütenden Mopp durch den Stall gejagt. Blut und Federn eines zerhackten Quertreibers besudelten eines Abends den nackten Boden, als der Bauer seine Abschlussrunde machte.
Einige Hühner trugen die Pein mit Fassung, steckten die Köpfe zusammen und kuschelten sich aneinander, doch nicht wenige trugen Schaden davon. Jeder auf seine Weise. Manche wiesen tiefe Spuren in ihrem Federkleid auf, andere hatten eitrig suppenden Wunden. Manche saßen schwer gezeichnet mit zerrupftem Gefieder, verschreckt und halb nackt in den Ecken. Immer mehr von ihnen rammten sich ihre spitzen Schnäbel ins eigene Fleisch. Der Bauer sah zwar das Leid bei seinen Rundgängen, doch er kniff die Augen zusammen und tönte stattdessen mit glockenklarer Stimme durch den Stall, dass es Licht am Ende des Tunnels gäbe und sie bald wieder frei seien werden. Ein Mittel sei auf den Markt gekommen, ein völlig neues und sie seien die ersten, an denen es ausprobiert würde. Es gingen noch einige Wochen ins Land, bis der Bauer von frühmorgendlichen Sonnenstrahlten begleitet in den Stall trat. In seinen Händen hielt er die neue Errungenschaft. Es war ein Ring, der die Hühner vor dem Fuchs schützen sollte. Dieser kleine Ring, der extra gegen Füchse entwickelt wurde, war eine Revolution. Da es niemals zuvor einen solchen Ring gegeben hatte, blieben allerdings einige Fragen offen. Niemand konnte sagen, wie der Ring langfristig wirken würde. Vernebelt vom Glauben, den Feind nun ein für alle Male bekämpfen zu können, posaunte der Bauer durch den Stall: „Seht her, dieser Ring gibt euch die Freiheit zurück!“ Die Hühner ließen sich von der Begeisterung des Bauern anstecken und gackerten wild drauflos. „Der Ring sondert ein Gift ab“, plapperte der Bauer auf die Hühner ein, „ein Gift, dass euer Fleisch für den Fuchs ungenießbar macht. Der Fuchs kann das Gift riechen, denn es strömt aus euren Zellen nach draußen und wenn er euch zu nahekommt, dann nimmt er reiß aus.“ Einen kleinen Haken hat das Ganze, dachte der Bauer im Stillen und verdrängte die aufsteigende Sorge gleich wieder. Niemand vermochte ihm zu sagen, ob das Gift nicht auch in den Eiern zu finden sei, die seine Hühner legen würden und auch nicht, was das Gift im Körper derer anrichten könnte, die das Fleisch der Tiere später essen würden. Aber letztlich scherte es den Bauern nicht, denn er wollte mit aller Macht seine Tiere vor dem Fuchs schützen und so sah er das Gift, dass den Hühnerleib verseuchen könnte als das kleinere Übel an.
Zunächst legte er den Ring den brauen Hühner um das zarte Beinchen, denn er hatte gehört, dass er bei den Brauen besser wirke als bei den Weißen. Nachdem er den Ring um die Fesseln der Braunen gelegt hatte, ließ er sie vor die Tür. Wie von Sinnen tollten die Freigelassenen durch das Gelände, pickten eifrig nach Würmern, gackerten laut und rannten voller Freude im Kreis. Zufrieden lächelnd stand der Bauer mit verschränkten Armen am Zaun und schaute auf das illustre Treiben seiner Tiere. Doch der Ring schien nicht so ohne zu sein. Bereits am nächsten Morgen, nachdem der Bauer den Braunen den Ring angelegt hatte, lagen zwei Hühner tot am Boden, ein drittes Huhn röchelt elendig vor sich hin, sodass der Bauer die Axt nehmen musste, um dem Leiden ein Ende zu setzen. Der Bauer zuckte mit den Schultern. Für ihn schien dieser Preis in Ordnung zu sein. Wenige Tage, nachdem er die Braunen freigelassen hatte, bemerkte er die Spuren des Fuchses am Rande des Geheges. Der üble Tunichtgut hatte sich in der Nacht ein Huhn geholt und es fortgeschleppt. Einige Meter vom Gehege entfernt, entdeckte der Bauer ein Blut-Federgemisch. Als er sich näherte, sah er aus dem Haufen der Überreste des Braunen ein einziges weißes Beinchen herausstechen. Das Beinchen mit dem Ring. Der Fuchs hatte alles gefressen, doch das Bein mit dem Ring hatte er übriggelassen. Erzürnt und ratlos machte sich der Bauer auf die Suche nach dem toten Fuchs, denn schließlich hätte dieser am Gift, dass eigens für ihn einwickelt wurde, verenden müssen. Doch weitgefehlt, nirgendwo war ein Fuchs zu finden. Resigniert schüttelte der Bauer den Kopf. Ein bisschen Schwund ist immer, dachte er und stapfte zu seinen Hühnern zurück.
Auch wenn das Gift den Fuchs scheinbar nicht fernhielt und er auch nicht am Gift verstarb, und selbst wenn einige Hühner durch das Tragen des Ringes verendeten, so änderte der Bauer nichts an seiner Strategie. Er blieb bei seinem Vorhaben, denn nun waren auch die weißen Hühner dran. Das lange Eingesperrtsein hatte die Weißen mürbe gemacht und sie sehnten sich nach Freiheit. Widerstandlos torkelten sie auf den Bauern zu. Ihre Sehnsucht hinter den Braunen herzugehen war groß und sie wünschen sich nach der langen Zeit der Entbehrungen ein wenig Abwechselung. Sie wollten gar nicht viel, hatten keine großen Wünsche. Sie wollten lediglich im Freien picken, die Sonne genießen, das Gras unter den Füßen spüren und endlich wieder Huhn sein. Es war ihnen gleichgültig, was man mit ihnen tat oder was sich in dem Ring befand, der nun um ihren zarten Hühnerbeinchen lag. Das Leben, so wie es einmal war weiterleben zu können, war das einzige für sie, was zählte.
Und so gingen die Tage ins Land. Der Fuchs war längst Geschichte geworden und lebte von den Geschichten, die sich rund um ihn erzählt wurden. Wenn die Hühner nicht an die Geschichten dachten, dann waren sie nur einfach nur Hühner. Das war es schließlich, was sie wollten, einfach nur Hühner sein. Jetzt waren sie lediglich Hühner mit einem Ring um ihr Bein. Wie gewohnt lebten sie in einem eingezäunten Gehege, unter der Aufsicht und dem Schutze des Bauern ihr kleines Hühnerleben. Sie pickten Körner, suchten nach Würmern und legten Eier. Einige würden die Belessuren, die sie durch die Enge und das Eingesperrtsein erfahren hatten, lebenslang mit sich herumtragen, andere schauten aus ihrem verbleibenden Auge in ihre kleine Welt. Manchmal starb ein Huhn. Manchmal wurde eines krank. Manchmal infolge des Rings, manchmal auch ganz von allein. Manchmal kam auch der Fuchs und riss ein Huhn. Manchmal brachte der Bauer ein Neues in den Stall. Alles schien wieder seine normale Ordnung zu haben und doch war etwas anders, etwas das sich forttragen sollte. Etwas, das alles für immer verändern würde.