Schuldig

Ich möchte euch die Geschichte von Klaus erzählen. Wir schreiben das Jahr 2019 und Klaus ist 59 Jahre alt. Klaus arbeitet in einer großen Zulieferfirma und ist dort für den Einkauf zuständig. Er sitzt mit 14 weiteren Mitarbeitern in einem Großraumbüro. Nachdem seine Ehe vor 5 Jahren geschieden wurde, lebt er allein. Klaus liebt Sport, vor allem solchen, dem er vom Sofa aus nachgehen kann. Regelmäßig schaut er sich die Spiele seines Heimatvereins mit ein paar Freunden im Stadion an und trifft sich alle zwei Wochen zum Dartspielen in einer nahegelegenen Kneipe. Abends und am Wochenende schaut er gerne fern und surft im Internet. Er führt ein geregeltes und beschauliches Leben.

 

Klaus isst viel, üppig und gerne. Unter der Woche versorgt er sich in der Betriebskantine mit einer warmen Mahlzeit. Abends und Morgen isst er Brote, am liebsten mit Wurst und Käse. Am Wochenende lässt er sich Essen anliefern oder wärmt sich ein Tiefkühlgericht auf. Er hat eine Schwäche für kleine Leckereien. Tagsüber nascht er gerne etwas Süßes und abends knabbert er salziges beim Fernsehen. Würde man ihn fragen, was er gerne trinkt, so würde er Bier, Kaffee und Cola sagen, denn Wasser sei schließlich etwas für die Pflanzen und zum Zähneputzen. Klaus hat Übergewicht. Er wiegt bei 182 cm 125 Kilo – natürlich mit Kleidung. Sein Blutdruck ist seit Jahren zu hoch, weshalb er regelmäßig Blutdrucksenker einnehmen muss. Sein Arzt rät ihm ebenfalls einen Cholesterinsenker zu nehmen, um seinen Lebenswandel zu kompensieren, seine zunehmende Arteriosklerose in Schach zu halten und einem möglichen Herzinfarkt vorzubeugen.

 

Das Laufen macht Klaus Mühe. Die Knie schmerzen ihm, wenn er die Treppe hochsteigt und die Luft wird ihm knapp, wenn es bergauf geht. Seit der Scheidung, die ihm emotional schwer zusetzte, klagt Klaus immer wieder über Enge in der Brust. Bislang sprach er mit niemandem darüber. Auch seinen einzigen Sohn sieht er selten. Sein Blutzuckerspiegel ist seit einiger Zeit ebenfalls aus dem Lot geraten. Der Arzt spricht davon, dass er an einem Diabetes Typ II erkrankt sei und verordnet ihm zu den bestehenden Medikamenten einen Blutzuckersenker einzunehmen und auf seine Ernährung zu achten. Klaus nimmt die verordneten Tabletten und macht weiter wie bisher.

 

Heute, am Freitag, hat seine Kollegin zu ihrem 60. Geburtstag eingeladen. Es wird ein großes Fest mit 80 Gästen in einem Partyraum mit Buffet und Tanz gefeiert. Die zahlreichen Gäste, darunter auch ein Großteil des Kollegiums, trudeln gegen 19.00 Uhr ein. Um den Abend in vollen Zügen genießen zu können, fährt Klaus mit dem Bus und trifft ebenfalls zu dieser Zeit ein. Gaby, das Geburtstagskind, begrüßt alle Gäste per Handschlag oder Umarmung an der Eingangstür. Sie schiebt die Missempfindungen und die leichte Übelkeit beiseite, die sie heute schon den ganzen Tag begleitet. Gaby nimmt an, dass ihr Unbehagen sicher mit der anstrengenden Vorbereitung der Feier und der Zubereitung des Buffets zu tun hat, die sie zum Großteil selbst übernommen hat.

 

Die Feier ist ein voller Erfolg. Alle speisen, trinken und tanzen ausgelassen. Das Buffet bietet für jeden Gaumen einen Anreiz. Besonders angetan hat es Klaus der Kartoffelsalat und auch die Mettbrötchen sind ganz nach seinem Geschmack. Klaus verbringt die meiste Zeit mit Peter, seinem direkten Tischkollegen, der während des Abends auffällig oft zur Toilette geht. Mit Marita, einer Kollegin, auf die er schon seit längerem ein Auge geworfen hat, dreht er ein paar flotte Runden über das Parkett und trinkt mit ihr zu seiner großen Freude anschließend noch Brüderschaft. Um Mitternacht fassen sich alle Gäste bei den Händen, um ein Ständchen für das Geburtstagskind, das sich in der Mitte des Kreises befindet, zu singen. Als Klaus gegen 2.00 Uhr ins Taxi steigt, ist er ziemlich betrunken und bester Laune.

 

Obwohl er gefühlt gerade erst zu Bett gegangen ist, wird er gegen 7.00 Uhr durch reißende Bauchschmerzen geweckt. Er schafft es gerade noch die Toilette aufzusuchen. Massiv ist der Durchfall, der ihn ereilt. Kaum hat er sich erhoben, setzt heftiger Brechreiz ein, der sich in der nächsten Stunde mit dem Durchfall abwechselt. Klaus weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Als er sich von wieder einmal von der Toilette erhebt, zieht es ihm die Beine unter dem Körper weg. Er sinkt zu Boden und verliert für einen Augenblick das Bewusstsein. Als er erwacht, ergreift ihn die Panik. Er schleppt sich ins Wohnzimmer und ruft seine Schwester an. Diese findet Klaus eine halbe Stunde später neben der Toilette zitternd auf dem Boden liegen. Sie ruft den Notarzt an. Dieser veranlasst, dass Klaus ins Krankenhaus transportiert wird. Klaus bekommt ein Bett in einem Dreibettzimmer und wird mit Kochsalzlösung und Medikamenten versorgt. Noch am selben Tag wird eine Infektion mit einem Norovirus bei ihm nachgewiesen. Da das Virus als hochinfektiös gilt, wird Klaus auf die Isolierstation verlegt.

 

Klaus geht es schlecht. Die Viruserkrankung macht ihm schwer zu schaffen. Unerklärlicherweise hat er seit zwei Tagen hohes Fieber und auch die massive Übelkeit hält trotz Medikamentengabe beständig an. Kraftlos dämmert er vor sich hin. Zeitweilig fühlt er sich so entkräftet, dass er denkt, er werde sterben müssen. Er kann weder etwas essen noch sich aus dem Bett erheben. So krank war er noch nie, dessen ist er sich gewiss, als er nach einigen Tagen versucht, die Toilette mit einem Pfleger zu erreichen. Es dauert insgesamt eine Woche bis Klaus wieder alleine auf der Bettkante sitzt und etwas Schonkost zu sich nehmen kann. Die Regeneration einer schweren Virusinfektion kann sehr lange dauern, sagte der Arzt, der ihm die Entlassungspapiere ausstellt. Acht Wochen nach der massiven Infektion ist Klaus immer noch nicht recht belastbar. Er klagt über Müdigkeit, allgemeine Schwäche und latente Übelkeit.

 

Im Nachhinein hört Klaus von drei weiteren Kollegen, die zum selben Zeitpunkt an Magen-Darm-Symptomen erkrankten, doch niemanden schien es so schwer erwischt zu haben wie ihn. Weder seine Schwester noch der Notarzt bildeten im Anschluss an den Kontakt mit ihm irgendwelche Symptome aus.

 

Klaus hadert mit sich und seiner Erkrankung.

In einem lichten Moment fragt er sich, wie es sein kann, dass er so schwer erkrankt ist?

Fragt sich, wo er sich infiziert haben könnte?

Fragt sich, wer schuld an seiner Krankheit ist?

 

Wo war das Virus?

Hat er sich das Virus im Bus eingefangen?

Trug Gaby das Virus in sich? Hat sie es bei der Begrüßung an ihn übertragen?

War Peter der Überbringer? Schließlich musste er am Abend häufig zur Toilette?

War das Virus im Kartoffelsalat? In den Mettbrötchen?

Klebte es an Maritas Lippen, mit der er Brüderschaft getrunken hat?

Haftete es an den Händen der Gäste, die er berührte, als sie gemeinsam das Ständchen sangen?

War das Virus an der Klinke der Toilettentür?                              

Saß es am Rande eines der Biergläser?

Hat das Virus im Taxi auf ihn gewartet?

 

Und wenn es dort war, wo auch viele andere waren, warum ist dann nur er erkrankt?

Ist es möglich, dass andere das Virus in sich trugen, ohne etwas davon zu bemerken?

 

Oder hat es etwas mit mir zu tun, fragt sich Klaus?

Mit meiner Gesundheit? Mit meiner Lebensgestaltung?

Biete ich dem Virus den Nährboden, die Grundlage, um sich in mir einzunisten?

Trage ich etwas dazu bei, dass sich das Virus in mir ausbreiten kann?

Ist es mein Immunsystem, das nicht in der Lage ist, das eingetretene Virus zu bekämpfen und mich von einem Infizierten zu einem Erkrankten werden lässt?

 

Wer ist schuldig?

Ist die Natur schuld, dass es Viren gibt?

Sind die anderen schuld, die mich nicht vor sich und einer möglichen Übertragung schützen?

Trage ich die Schuld zu erkranken?

Kann überhaupt jemand schuldig sein?

 

Ist es möglich, dass Menschen ständig Viren in sich tragen, ohne etwas davon zu bemerken?

Ist es möglich, dass wir uns nicht vor dem Leben schützen können?

Ist es möglich, dass Krankheiten zum Leben dazugehören?

Ist es möglich, dass Krankheiten etwas mit uns selbst zu tun haben?

Ist es möglich, dass, wenn man das Leben auf Kosten der Gesundheit zu kontrollieren versucht, jegliche Lebendigkeit auf der Strecke bleibt?

 

Ist es richtig, dass wir Angst vor Krankheiten entwickeln, weil wir das Vertrauen in uns selbst verloren haben?

Ist es richtig, dass wir es sind, die Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlergehen nehmen können?

Ist es richtig, dass wir die Verantwortung für unser Leben übernehmen sollten?

Ist es richtig, dass das Leben ein einzigartiges Geschenk ist, das wir zu schätzen lernen sollten?

Ist es richtig, dass die Zeit zum Umdenken längst begonnen hat?

 

Gefesselt