ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN

 

„WENN DAS SO WEITERGEHT, MÖCHTE ICH LIEBER STERBEN!“

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt die sechsjährige Linda aus dem Haus gegenüber, die ihre Schule und ihre Freude so schmerzlich vermisst.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt der demenzkranke Vater meiner Freundin, der seit Monaten eingesperrt in seinem Zimmer im Altenheim sitzt.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt die Frau, als ihr Mann ihr ins Gesicht schlägt und sie das warme Blut auf der Zunge schmeckt.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt das Mädchen und zieht sich die Decke über den Kopf, als ihr Vater die Hose herunterlässt.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt der herzkranke Mann mit Schmerzen in der Brust, der sich aus Angst vor Ansteckung nicht zum Arzt traut.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt die depressive Patientin, weil ihr jegliche Struktur und Anker im Leben genommen wurden.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt der Jugendliche und ritzt sich eine tiefe Kerbe in den Unterarm.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt der kleine Junge, der seit Tagen ohne Essen im dunklen Raum zubringen muss, weil seine Eltern auf Droge sind.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt der Kleinkünstler beim Blick in seinen leeren Kalender ohne Engagements.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt die alte Frau, die einsam an ihrem Küchentisch sitzt und dem Ticken der Uhr lauscht.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt der Gastronom, den der Schuldenberg erdrückt.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt die alleinerziehende, berufstätige Mutter, die abends weinend und bis ins Mark erschöpft auf dem Küchenboden liegt.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt der Inhaber des kleinen Familienbetriebs, der auch dem letzten Mitarbeiter kündigen muss.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt der junge Mann mit Angst und Zwangsstörung, der seit Monaten das Haus nicht mehr verlassen hat.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

sagt der Landwirt mit dem kleinen Hof, dem das Preisdumping endgültig das Genick bricht.

 

„ICH MÖCHTE LIEBER STERBEN!“,

denkt der Obdachlose, der schlotternd bei eisiger Kälte nach einen Unterschlupf sucht.

 

MENSCHEN sind soziale Wesen. WIR brauchen einander! Berührungen, Gesehenwerden und Miteinander sind unser Lebenselixier. Menschlicher Kontakt gibt uns Struktur, Halt und Sicherheit.

 

Nicht jeder ist in ein gutes, wohltuendes und gesundes familiäres Netzwerk eingebunden. Viele Menschen bestreiten diese Zeit allein – nicht nur physisch allein, sondern auch emotional verlassen. Wenn wir niemanden an unserer Seite haben, der uns Hoffnung gibt, der uns auffängt, uns zuhört und halt gibt, wenn es niemanden gibt, auf den wir uns stützen und dem wir vertrauen können, dann kann der Tod eine Lösung sein.

 

Ich frage mich, wie viele Menschen diesen Weg im letzten Jahr gegangen sind und in diesem Jahr noch gehen werden. Sind sie dann auch in Verbindung mit Covid gestorben oder einfach nur so? Zündet auch für sie jemand eine Kerze an?

 

Sind sie es, von denen wir später sagen werden, dass sie zu den bedauernswerten Kollateralschäden gehören? Nach dem Motto: Ach, dass es so schlimm ist, das habe ich nicht gewusst.

 

Wird es um sie gehen, wenn es heißt, wir werden uns alle viel verzeihen müssen? Oder werden sie dann einfach mit dem großen Teppich der Verdrängung abgedeckt und verschwinden hinter der Mauer des Vergessens? Werden sie uns gleichgültig sein, wenn für uns alle das Leben wieder aufblüht, weil wir stets darauf hoffen, dass jemand anders die Verantwortung für das, was geschieht übernehmen wird?

 

Diese Zeit wirkt wie ein Brennglas und potenziert nicht nur die bestehenden Missstände auf ungute Weise, sondern bringt allerlei neue Probleme mit sich, mit deren Bewältigung wir noch lange beschäftigt sein werden.

 

Ich würde mir wünschen, dass die Entscheidungen, die in diesen Tagen getroffen werden, zum Wohle aller Menschen sind.

 

Mitgefühl in dunklen Tagen