Die Würde des Lebens

 

Könnt ihr euch noch daran erinnern, wie sich die Haut eines alten Menschen anfühlt? Wie zart und weich sie ist? Könnt ihr euch vorstellen, wie sehr sich diese Haut nach Berührung sehnt, genauso sehnt, wie es eure tut?

 

Könnt ihr euch noch an das Lachen erinnern, wenn ihr eure Großeltern besucht habt, daran, wie ihre Augen glänzten, als ihr in der Tür standet?

 

Könnt ihr die vielen Furchen, die das Leben in die Gesichter dieser alten Menschen schrieb, noch vor euch sehen? Euch vorstellen, dass sie auch einmal jung, glatt und lebensfroh waren und nicht abgeschoben in Altenheimen oder isoliert und einsam in leeren Wohnungen saßen?

 

Könnt ihr euch noch vorstellen, dass sie einst ein wertvoller Teil dieser Gesellschaft waren? Dass sie es waren, denen unser Wohl am Herzen lag, die dafür gearbeitet haben, dass wir heute in Wohlstand und Sorglosigkeit leben können?

 

Könnt ihr euch vorstellen, wie schmerzvoll es sein muss, keine Dankbarkeit und Achtung zu erfahren, sondern abgeschoben, bevormundet und nicht mehr gehört zu werden?

 

Könnt ihr euch vorstellen, wie sich die alten Menschen in der derzeitigen Situation fühlen mögen, vorstellen, wie unendlich einsam und allein sie sind? Könnt ihr euch vorstellen, wie ihre Herzen bluten und ihre Seelen vertrocknen?

 

Könnt ihr euch vorstellen, dass wenn die Zeit irgendwann ihre Dramatik verloren hat, sie dann genauso alleine sein werden, wie sie es zuvor waren? Dann, wenn sich unser Terminkalender wieder füllen und wieder alles wichtiger wird als die alten Menschen und die, die sich mit Hingabe ihrer Fürsorge widmen?

 

Könnt ihr euch vorstellen, dass, wenn wir wieder shoppen, Urlaubsreisen und Kurztrips machen dürfen, alles wieder genauso sein wird, wie es vorher war. Dass es uns wieder gleichgültig sein wird, wie hart oder weich sich ihr Haut anfühlt? Die Haut, die nach Berührung schreit, die wir vielleicht seit Monaten oder Jahren oder sogar niemals berührt haben, weil wir uns vor dem Alter ekeln?

 

Könnt ihr euch vorstellen, wie weh das tut?

 

Könnt ihr euch vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn irgendwann einfach über euch entschieden wird, ihr mit Medikamenten vollgepumpt und verwahrt werdet, weil ihr nicht mehr wichtig, sondern lästig seid? Weil man glaubt, dass ihr sowieso nichts mehr mitbekommt und deshalb alles Mögliche mit euch tun oder lassen kann?

 

Könnt ihr euch vorstellen, dass ihr als dumm und einfältig abgestempelt werdet, weil ihr an der rasanten Entwicklung nicht mehr teilhaben könnt, sondern euch auf das besinnt, was wirklich wichtig ist: Begegnungen, Verbundenheit, Miteinander.

 

Könnt ihr euch vorstellen, dass man nur noch über euch, aber nicht mehr mit euch spricht und es für überflüssig hält, euch zu fragen, was ihr fühlt, braucht und wünscht?

 

Könnt ihr euch vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn ihr genügend gelebt habt, dem Leben überdrüssig seid und gerne sterben möchtet, aber nicht dürft, sondern stattdessen künstlich am Leben gehalten werdet, weil man damit eine Menge Geld verdienen kann?

 

Könnt ihr euch das vorstellen, euch erlauben, das zu fühlen?

 

Wirklich?

 

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Ist es nicht bedauerlich, dass wir mit aller Macht versuchen, Alter, Krankheit und Tod aus unserem Leben zu verdrängen? Gerade zu fatal, dass wir die Vergänglichkeit und Endlichkeit abtun, als gehöre sie nicht zu uns?

 

Ist es nicht traurig, dass, obwohl das Lernen einen so großen Stellenwert in unserem Leben hat, diese Themen ausgegrenzt werden, sodass es unmöglich wird, einen normalen Umgang mit ihnen zu entwickeln?

 

Ist es nicht bedenkenswert, dass wir, obwohl wir darum wissen, immer noch weg anstatt hinzuschauen?

 

Ist es nicht mehr als beklagenswert, dass wir uns aus Angst vor der eigenen Vergänglichkeit die Lebendigkeit nehmen?

 

Ist das nicht das eigentliche Dilemma?

 

Das Jahr der Tränen