Der Zaubertrank

Ein zeitgenössisches Märchen

 

Es war einmal ein wunderschönes Land. Alles in ihm stand in Saft und Blüte. Die Kinder spielten auf den Straßen und die Menschen lachten, sangen und tanzten ausgelassen miteinander. An einem strahlend blauen Himmel zogen Vögel ihre weiten Kreise. Musiker, Poeten und Maler verliehen der Vielfalt, der Einzigartigkeit und Schönheit in ihrer Kunst Ausdruck. Die Menschen lebten in Frieden und Sorglosigkeit. Seit vielen Jahren regierte dieses herrliche Land ein mächtiger Mann von grober Statur und missmutigem Gemüt, welches noch missmutiger wurde, wenn ihn die Gicht quälte. Der Herrscher schätze das gute und schwere Essen, seine Ruhe und den Gehorsam seiner Untergebenen. Wenn alles, wonach ihm bedurfte, seine Ordnung hatte und das kam nicht häufig vor, so war er ein einigermaßen verträglicher Mann.

 

Und so begab es sich, dass der Herrscher eines Morgens in seinem bequemen Sessel saß, den Blick in seinen prachtvollen Garten gerichtet und an einem Hühnerbein knabberte. Auf seinen dicken Bauch, den ein golddurchwirktes Wams umspannte, tropfte etwas Fett. Träge und längst satt nagte er das Fleisch vom Knochen. Es ließ sich nicht genau benennen, wann er die Freude und die Leichtigkeit aus seinem Leben verbannt und auch nicht, wann er den Blick für die kleinen und feinen Dinge des Lebens verloren hatte. Doch so war es und ein jeder, der ihm begegnete, tat gut dran, sich gegen seine Übellaunigkeit zu wappnen.

 

Genüsslich leckte sich der Herrscher das Fett von den Fingern, als er drei Kinder erspähte. Sie zogen sich an Palastmauer, die den Garten begrenzte, hinauf und balancierter leichtfüßig hintereinander über den Mauersims. Ungehalten brüllte der Herrscher nach der Wache. Diese eilte sogleich herbei und vertrieb die Eindringlinge. Lachend trollten sich die Kinder. Doch das Lachen war wie ein Schlag. Es schmerzte dem Herrscher in den Ohren und seine Wangen begannen vor Zorn zu glühen. „Mein Volk ist außer Rand und Band, es tanzt mir auf der Nase herum“, tobte er wutschnaubend, „so geht das nicht weiter. Die Menschen sollen arbeiten und schweigen, das ist es, was ich will!“ Den schweren Leib durch den Raum schleppend, ging er auf und ab. Einst, so fiel es ihm ein, hatte er von einem bösen Hexenmeister zum Dank, dass er ihm das Leben gelassen hatte, ein Fläschchen bekommen. Ein Fläschchen, in dem sich etwas Fürchterliches verbarg. Als der Meister ihm in seiner Not das Fläschchen übergab, beugte er sich hinab und flüsterte ihm mit spitzer Zunge ins Ohr: „Herrscher, als Dank für mein Leben übergebe ich euch eine mächtige Waffe. Sie ist schärfer als alle Schwerter dieser Welt. Bewahret den Inhalt wie euren eigenen Augapfel auf, denn nur ein winziges Tröpfchen davon kann ein ganzes Volk in die Knie zwingen!“

 

Nur wenige Wochen später stellte sich der Herrscher vor sein Volk und sprach mit eindringlicher Stimme: „Es grassiert eine grässliche Seuche in unserem schönen Lande. Das, was jeden von euch befallen kann, ist so unsichtbar wie die Luft, und obwohl man es nicht sehen kann, besteht große Gefahr. Eurer Leben wird bedroht und Tausende werden sterben. Zu eurem Schutze werden alle Türen und Fenster geschlossen, niemand darf das Haus verlassen und es darf sich niemand mehr zu nahe kommen!“ „Wer den Anweisungen nicht folgt“, sagte er mit Nachdruck und erhob seine Stimme, „dem droht eine üble Strafe!“ Ein Ruck ging durch das Volk und es erschrak fürchterlich, zitterte vor Angst und verfiel in eine tiefe Starre.

 

Zufrieden lehnte sich der Herrscher in seinem bequemen Sessel zurück, schaute in seinen üppigen Garten und dachte voller Stolz: Es ist ein guter Weg, denn nun tanzt mir niemand mehr auf der Nase herum. Wohlgestimmt falte er die Hände über seinem dicken Bauch und sank in einen leichten Schlaf.

 

Als trügen die Menschen Schuhsohlen mit Blei gefüllt, stapfen sie gebeugt die ausgetretenen Pfade. Die, die etwas zu tun hatten, gingen ihrer Arbeit nach, doch viele verkümmerten jämmerlich und starben an Einsamkeit. Die Nutzlosen und Schwachen sterben, dachte der Herrscher, so soll es sein, doch ich muss dem Volke Hoffnung geben, damit es nicht verzagt oder gar aufbegehrt und die Untergebenen ihre Arbeit nicht mehr tun. Er bestellte den besten Zauberer ein und beauftragte ihn, einen Trank gegen die Seuche zu bereiten. Großmütig beschenkte er ihn mit Diamanten und Gold und warf zur Besänftigung auch ein paar Krumen ins Volk. Dankbar und ergeben nahm das Volk seine Almosen an und kehrte eiligst hinter die verschlossenen Türen zurück. Der Zauberer fühlte sich durch die üppigen Gaben beflügelt. In Windeseile fertigte er einen ganz besonderen Trank an. Einen wahren Zaubertrank, einen, den es niemals zuvor gab. Versonnen rührte er im großen Kessel, schaute dabei in das neuartige Gebräu und wusste im Stillen, was er damit auslösen kann. Doch er schwieg darüber, denn das Gold in seinen Taschen wog schwerer als sein Gewissen. Als der Trank fertig war, informierte er den Herrscher und dieser rief seine Berater zu sich. Die Berichterstatter des Herrschers sollten die frohe Kunde ins Land tragen. Wie aus einem Munde frohlockten sie: „Seht alle her, ein Zaubertrank steht für euch bereit und jeder solle davon trinken. In ihm liegt das Heil, das euch die Freiheit zurückgibt!“ Es gab auch noch andere Sätze, die die Berater sprachen, aber diese gingen im Jubel des Volkes unter. Sie sagten: „Nun, der Trank hat seine Tücken. Er schützt nicht davor, an der Seuche zu erkranken und auch nicht, sie an andere weiterzugeben. Vielleicht schützt er davor, nicht so schwer zu erkranken, aber genau weiß man es nicht. Auch weiß man nicht, wie er auf die Dauer wirkt. Eigentlich weiß man noch gar nichts, aber es ist wichtig, dass ein jeder von euch ihn so schnell wie möglich einnimmt, denn er ist der einzige Weg und deshalb bleibt euch keine Wahl!“

 

Nicht alle Menschen, die die frohe Kunde vernahmen, jubelten. Einige von ihnen stellten Fragen, aber das Fragenstellen mochte der Herrscher nicht. Er schickte seine Ordnungshüter aus und brachte die Widersacher zum Schweigen. Kaum jemand nahm davon Notiz, denn die Masse fühlte sich durch Krankheit und Tod bedroht und wurde dadurch in Angst und Starre gehalten. Die Berater riefen das Volk auf, sich zu den Kesseln zu begeben, in denen der Zaubertrank brodelte. Selbst die, die den Trank nicht trinken mochten, wurden zu den Kesseln, die überall im Lande bereitstanden, geschoben. Ihnen wurde gedroht, dass sie bei Wasser und Brot darben müssten, so sie denn den Trank nicht einnehmen mögen. Aus Angst, hungernd und frierend zu enden, gaben sie sich geschlagen. Der Großteil des Volkes riss begierig die Münder auf, um sich den Trank einzuverleiben, und selbst wenn es vielen übel danach erging, wollte niemand darauf verzichten. Die Übelkeit sei gewünscht und völlig normal, sagten die Handlanger der Berater und damit war alles gesagt. Alle wähnten sich in Sicherheit und waren frohen Mutes.

 

Doch schon wenige Wochen, nachdem der Trank zum ersten Mal verabreicht wurde, starben erstaunlich viele Alte im Volk. „Oh“, riefen die Berater des Herrschers laut aus, „das ist die Seuche, sie schlägt noch einmal zu und ist schlimmer als jemals zuvor!“ Die Türen und Fenster müssen fester verriegelt und der Trank schneller verabreicht werden. Von panischer Angst gepackt, drängelte sich das Volk in Scharen um die Kessel und trank gierig vom Zaubertrank.

 

Die Zeit ging ins Land. Es dauerte nicht lange, als einige Menschen, die vom Trank gekostet hatten, bei den Heilkundigen des Landes vorsprachen. Sie klagten über merkwürdige Beulen und grässlichen Ausschlag. Andere starben plötzlich und völlig unerwartet jung an Jahren. Die Nachricht wurde den Beratern des Herrschers angetragen und sie reagierten prompt. Laut riefen sie aus: „Krank zu werden, ist etwas völlig Normales. Krankheiten und Tod gehören zum Leben dazu, das war schon immer so. Sorgt euch nicht, wir haben alles im Griff!“ Unaufhaltsam bildeten immer mehr Menschen merkwürdige Krankheitszeichen aus. Das kam auch dem Herrscher zu Ohren und stimmte ihn ärgerlich. Höchstpersönlich wandte er sich an den Zauberer und fragte ihn, wie das möglich sei. Dieser zuckte nur lässig mit den Schultern und sagte: „Herrscher, Ihr wusstet es doch von Anfang an. Weder habe ich euch versprochen, dass der Zaubertrank die Seuche beendet, noch habe ich behauptet, dass die Einnahme des Trankes folgenlos bleibt. Ihr wusstet es und hättet Handeln können, doch nun ist es zu spät. Ihr allein tragt die volle Verantwortung und nicht ich.“ Dann wandte sich der Zauberer zum Gehen und ließ den Herrscher allein zurück. Der Herrscher riss erschrocken die Augen auf, denn zum ersten Mal schien er die Misere, in die er das Volk geführt hatte, zu erkennen. Schnell rief er seine Berater zu sich und erteilte ihnen den Befehl zu schweigen. Nichts davon dürfe in die Ohren des Volkes gelangen, schließlich könne es sonst aufbegehren und ihn vom Thron stoßen. Um eine Lösung ringend, schritt er grübelnd auf und ab. Ein weites Fläschchen habe ich nicht, dachte er, doch ich könnte die Angst, die im Volk wie eine Krankheit grassiert nutzen und so kam ihm eine Idee. Er rief seine Berater zu sich. Sie mögen die Berichterstatter beauftragen, eine neue Nachricht in Volk zu streuen, eine, die noch bedrohlicher sei als die letzte. Eine, die alle Fragen und Zweifel ersticken würde.

 

Die Berater und Berichterstatter taten, wie ihnen geheißen wurden und sandten eine Bedrohung größeren Ausmaßes aus, der der Kampf angesagt werden müsse. An einem mit schweren Wolken verhangenen Tag trat der Herrscher erneut vor das Volk: „Eine neue und noch viel schlimmere Seuche sei im Anmarsch“, erklärte er mit düsterer Miene und beschlagener Stimme, „noch schwerere Zeiten stünden bevor!“ Ernst rief er das Volk zur Folgsamkeit auf, denn wenn es nicht folgsam sei, so sagte er, würde ihnen das Liebste genommen werden, was sie haben. Wieder erstarrte das Volk in Angst und rührte sich nicht mehr, denn niemand wollte das Liebste, das er hatte, jemals verlieren. Mit geballten Fäusten begannen die Menschen festzuhalten, was ihnen lieb und teuer war. Misstrauisch beäugten sie einander, feindeten sich an, verteidigten ihr Hab und Gut und verbarrikadierten sich hinter verschlossenen Türen und Fenstern. Selbst die Blumen erstarrten, als seien sie zu Stein gefroren durch die Kälte, die überall herrschte.

 

Der Herrscher genoss die Ruhe. Zufrieden lehnte er sich in seinem bequemen Sessel zurück, nahm eine der gebratenen Tauben vom goldenen Teller und verspeiste sie genüsslich.

 

Trotz der Lähmung, die über dem Lande lag, zog nicht in jede Kammer die Dunkelheit ein. Es gab einige wenige, die sich nicht vor dem eisigen Wind, der vor den Türen wehte, schreckten. Sie ließen sich durch nichts davon abbringen, nach Nischen zu suchen, in denen die Freude ihre Knospen schlug. Mit Hingabe widmeten sie sich dem Aufkeimenden, das in ihnen selbst zu erblühen begann. Unglaublich schön an Farbe und reich an Vielfalt, was das, was ihr Herz und auch ihren Verstand erfüllte. Voller Zuversicht begannen sie aus sich selbst herauszuschöpfen und säten mit jedem Schritt, den sie taten und jedem Wort, das sie sprachen, den kostbaren Samen der Liebe aus.

 

Das Jahr der Tränen